Alles muss raus

Das Leben verändert sich mit der Diagnose schlagartig. Die Gedanken und Gefühle kreisen meist ausschließlich um andere, wenn man mit Krebskranken lebt: in erster Linie um den Partner und die Kinder, um andere Angehörige wie Geschwister und Eltern.

Nicht alle Angehörigen denken an sich, geschweige denn über sich nach. Über das, was sie in dieser Zeit erleben, denken und fühlen. Aber: Um die Erlebnisse und Gefühle verarbeiten zu können, müssen sie geäußert − ausgesprochen − werden. Auch Musizieren oder Malen sind Wege, sich auszudrücken. Jeder muss für sich selbst herausfinden, was ihm hier hilft und selbst entscheiden, wie er mit dieser schwierigen Situation umgeht. Man sollte sich allerdings darüber im Klaren sein, dass nicht nur der Kranke psychisch belastet ist und die eigene Belastung nicht unterschätzen.

Ich habe damals den Rat meiner Nachbarin nicht befolgt: Bin nicht zum Windkraftrad gefahren, um gegen den Lärm des Rotors alles rauszuschreien, was mich quälte. Habe mich auch nicht auf eine Autobahnbrücke gestellt … Das schien mir völlig unpassend. Und mit anderen darüber zu sprechen, konnte ich mir auch nicht vorstellen. Andere  damit zu belasten, wie es beispielsweise in mir aussieht, wenn ich dabei zuschaue, wenn mein Mann und andere Patienten ihre Infusionen bekommen oder auf ihre Bestrahlung warten, schien mir unangebracht. Weder die Gefühle, die auf mich einstürzten, wenn wir auf Untersuchungsergebnisse warteten und Rezidive mitgeteilt bekamen, noch das ständige Bangen in Zeiten ohne Rückfälle, konnte ich lange nicht in Worte fassen. Der Therapeutin, die ich damals besucht habe, konnte ich zwar meine Ängste mitteilen, aber nicht, was sonst noch alles in mir vorging.

Also habe ich alles runtergeschluckt, weggepackt. Lebte in mehreren Welten. Bin nach endlosen Stunden in Kliniken und Fahrten von Arzt zu Arzt immer wieder in meinen Alltag zurückgekehrt, als wäre nichts gewesen. Habe funktioniert. Schließlich sollten die Kinder so normal wie möglich groß werden, und auch meine Arbeit sollte nicht darunter leiden. So habe ich jahrelang meine schlimmsten Erlebnisse mit niemanden geteilt. Mein Mann war aufs Gesundwerden programmiert, auch ihn wollte ich keinesfalls belasten und schwächen. Schließlich war ich ja die Gesunde von uns beiden und sein Schicksal viel schwerer als meins.

Es hätte sicher genützt, Tagebuch zu schreiben, zu bloggen oder mit jemandem zu sprechen, der das alles kennt. Entweder aus beruflicher oder eigener Erfahrung. Ich konnte mir leider nicht vorstellen, dass es mir etwas bringt, mit anderen Betroffenen zu sprechen und habe deshalb keine Selbsthilfegruppe besucht. Und ich wusste nicht, dass Angehörige kostenlos psychoonkologische Hilfe in Anspruch nehmen können. Mittlerweile bieten die meisten Kliniken Unterstützung für Angehörige an. Auch Sozialpsychologen und Sozialtherapeuten können hier weiterhelfen. Der behandelnde Arzt kann hier erster Ansprechpartner sein.

Hinweise zu Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und Foren gibt es unter:
https://www.krebsgesellschaft.de/onko-internetportal/basis-informationen-krebs/leben-mit-krebs/beratung-und-hilfe/selbsthilfe.html

Foto: pixabay

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